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  Der Beginn und der Untergang des kolonialen bzw. neoliberalen Kapitalismus (4)
       
  Die neuen (frühliberalen) theoretischen Grundlagen der marktwirtschaftlichen Ordnung  
       
   
        „Ich bin überzeugt, dass die Macht erworbener Rechte im Vergleich zum allmählichen Durchdringen von Ideen übertrieben ist. Diese wirken aber nicht immer sofort ... Aber früher oder später sind es Ideen, und nicht erworbene Rechte, von denen die Gefahr kommt, sei es zum Guten oder zum Bösen.“  
John M. Keynes  
   
        „Es gibt nur zwei Mächte in der Welt: das Schwert und den Geist. Auf die Dauer wird das Schwert immer durch den Geist besiegt.“  
Napoleon Bonaparte  
   
 
       

Es wurde schon bemerkt, dass es auf die Frage der Herkunft des Kapitalismus prinzipiell betrachtet zwei mögliche Antworten gibt: Entweder ist er 1/ ganz spontan entstanden, also aus nicht genau erklärbaren Gründen, oder er wurde 2/ zuerst im menschlichen Geiste als eine Vorstellung über eine neue soziale Ordnung entworfen. Zugespitzt gesagt heißt also die Frage: Ob die Menschen vor sich blind herumgebastelt haben und ohne über die Zukunft nachzudenken irgendwann im Kapitalismus erwacht sind, oder ob der Kapitalismus eine menschliche Erfindung ist, wie etwa Flugzeug, Handy oder Kunstniere. Bemerkt wurde auch schon, dass beides zur Erklärung des Kapitalismus nötig war. Im Folgenden soll gezeigt werden, wie die neu entstandene Wissenschaft Politische Ökonomie dazu beigetragen hat.

Die Politische Ökonomie als eine neue Wissenschaft der Moderne entstand als Fortsetzung der Untersuchungen über die „menschliche Natur“ der frühmodernen Philosophen und Denker, vor allem aus der moraltheoretischen Erforschung des menschlichen Verhaltens bzw. der Affekte – wie man früher die Gesamtheit der menschlichen Neigungen, Bedürfnisse und Triebe bezeichnete. Daraus gewonnene neue Erkenntnisse waren dermaßen revolutionär, dass sich behaupten lässt, dass am Anfang der Moderne ein Paradigmenwechsel in der Ethik stattgefunden hat. Das habe ich schon anderswo ausführlich beschrieben, weiter jetzt soll es nur kurz zusammengefasst werden. Vor allem die Version dieser Ethik von Smith weiter Zuerst ein paar Bemerkungen darüber, was den Paradigmenwechsel in der Ethik hervorgerufen hat und warum er ein externen Faktor oder Auslöser der neuen Wissenschaft Politische Ökonomie war.

Die historischen Forschungen haben ergeben, dass nach dem Niedergang des Römischen Reiches die Produktivität drastisch zurückgegangen ist. Einige Historiker sprechen sogar von einem Rückgang von 80%. Die landwirtschaftlichen Erträge gingen zurück, und selbst die Lebensqualität der mächtigsten Feudalherren lag weit unter derjenigen, derer sich der durchschnittliche Bürger Roms hatte erfreuen können. Ohne Düngung sind die Bodenerträge stark zurückgegangen. Auf ein gesätes Korn wurden nämlich nur drei geerntet, was sehr wenig ist: Ein Korn musste man für die nächste Saat aufbewahren (einsparen), eins ging durch Schädlinge und anderswie verloren, so dass das letzte nur wenige Menschen ernähren konnte. Mit Ausnahme der großen Kathedralen wurde kein Bau mehr errichtet, der mehrere Jahrhunderte überlebte. Die von den Römern erbauten Straßen waren auch im späten Mittelalter immer noch die besten auf dem Kontinent, obwohl sie kaum mehr repariert wurden.

Das ökonomische Versagen der christlichen Zivilisation kann überraschen, da sie auf der Liebe bzw. Nächstenliebe beruhte. Die christlichen Menschen wurden nämlich von  Geburt an  dazu erzogen, untereinander hilfsbereit und kooperativ zu sein. Das hat offensichtlich nichts gebracht. Die Gladiatoren des alten Roms hat man durch  Hexenverbrennung und Inquisition ersetzt. Und im Dreißigjährigen Krieg (1618-1648), also nach Jahrhunderten der Erziehung zur Nächstenliebe haben sich Christen gegenseitig Verbrechen und Grausamkeiten angetan, die vielleicht nur dem Teufel bei höchster Anstrengung einfallen würden. Die christliche Auffassung, wonach der Mensch als gut geboren wird - man sollte mit Sanktionen und Erziehung nur ein wenig helfen, damit er auch so bleibt - hat jegliche empirische Glaubwürdigkeit verloren. Nun hat man am Anfang der Moderne begonnen sich Gedanken zu machen, wie eine gute Gesellschaft mit den Menschen funktionieren soll, „wie sie wirklich sind“, also mit den Menschen, die beschränkt rationale und beschränkt moralische Wesen sind. Meiner Meinung nach hat das neue Paradigma mit Hobbes und Spinoza begonnen. Damit eine Ordnung mit solchen Menschen gewissermaßen zufriedenstellend funktioniert, schlagen sie Regeln vor, wobei ihnen Hume und Smith später folgten. Die Marktwirtschaft von Smith beruht also nicht auf irgendeiner esoterischen Freiheit, wie später bei den Neoliberalen, sondern auf Regeln. Ganz am Anfang des Wohlstands der Nationen bekundet Smith ganz klar: „Ich werde im Folgenden untersuchen, welches die natürlichen Regeln sind, die die Menschen beim Tauschen von Ware gegen Geld oder Ware beachten“ (Wohlstand: 27). Die Regeln für den Tausch sind aber nur die ersten, die er erforscht, dann schlägt er noch weitere vor. Hier nur die wichtigsten von ihnen.

Marktpreise  

Die Regeln, nach welchen die Güter verteilt werden, müssen nach Smith von den Menschen vor allem als gerecht empfunden werden. Nach ihm ist nicht die Freiheit, sondern die „Gerechtigkeit der Hauptpfeiler, der das ganze Gebäude stützt. Wenn dieser Pfeiler entfernt wird, dann muß der gewaltige, der ungeheuere Bau der menschlichen Gesellschaft … in einem Augenblick zusammenstürzen und in Atome zerfallen“ (Ethische Gefühle, 128-129). Indem die Güter nach Smith ausschließlich das Ergebnis der („produktiven“) Arbeit sind, wäre es nach Smith gerecht, dass die Arbeitsmenge (embodied labour) den Preis der Güter bestimmt. Diese Auffassung hat ein Jahrhundert vor ihm schon William Petty (1623-1687) als „Arbeitswertlehre“ klar formuliert. Die Leistungsgerechtigkeit der Arbeitswertlehre ist eine Aufwandgerechtigkeit, in der Sprache der Ökonomie könnte man sie als angebotsseitige Leistungsgerechtigkeit bezeichnen. Aber Smith verlässt die Arbeitswertlehre und befürwortet die Preise (Tauschwerte), wie sie sich auf dem Markt durch Konkurrenz bilden. Warum?

Smith betont nachdrücklich, dass „es schwer ist, das Verhältnis zwischen zwei verschiedenen Arbeitsmengen genau zu bestimmen“ und es noch schwieriger sei, einen „genauen Maßstab für die Mühsal und die Geisteskraft zu finden“. Man sollte hier erwähnen, dass über die großen Unterschiede zwischen verschiedenen Arten der Arbeit sein älterer Kollege Richard Cantillon (1680–1734) schon das Wichtigste gesagt hat. Für Marx war das alles bekannt, er hat es als unwichtig betrachtet. Nach ihm wäre die Messung der Arbeit durch ihre Dauer (Arbeitsstunden) für praktische Bedürfnisse gut genug. Das war eine fast unvorstellbare Vulgarisierung des Problems – eine ungeheuerliche Realitätsfremdheit, die so oft den Akademikern und Philosophen eigen ist. Gegen die Arbeitswertlehre sprach nach Smith noch etwas, nämlich dass der Mensch „ein schwaches und unvollkommenes Geschöpf“ ist. Jeder in der Arbeitsgruppe würde den Wert der eigenen Arbeit über- und den Wert der Arbeit der anderen unterschätzen. Solche Menschen würden sich über die von ihnen geleisteten Arbeitsmengen nie einigen können. Jeder würde seine individuelle Leistung überschätzen, sich betrogen fühlen, was seine Motivation zur Arbeit immer mehr beeinträchtigen würde. Würde man ihn nicht bestrafen bzw. entlassen können, würde er jede Möglichkeit nutzen, so wenig wie möglich zu leisten - also die Leistung nur simulieren. Das hat sich in der kommunistischen Planwirtschaft als unlösbares Problem erwiesen und sie schließlich ruiniert, obwohl sie am Anfang fast unglaublich erfolgreich war – und zwar solange sich die Menschen an die kapitalistische Hölle erinnern konnten und an die kommunistische Utopie glaubten. Smith war sich dessen bewusst und hat eine andere Regel für den Tausch der Güter in industriell entwickelten Wirtschaften vorgeschlagen, die er Marktpreis benannt hat. Diese Lösung des Problems des Tausches ist epochal und beeindruckt noch heute mit der bekannten Schlichtheit der genialsten Ideen.

Jeder sollte das Recht bekommen zu produzieren, was er will, was er am besten kann und womit er am meisten verdienen würde. Dann würden Güter von möglichst vielen angeboten werden, die dann nolens volens gegeneinander konkurrieren würden. Die Menschen als Käufer werden von zwei gleichen Gütern natürlich das billigere bevorzugen und kaufen. Diese Verhaltensweise lässt sich regelungstheoretisch als Rückkopplung in dem Tauschprozess betrachten, die auf den Angebotspreis eines jeden Gutes wirkt. Der endgültig realisierte Preis wäre dann der sich spontan einstellende Sollwert dieser Regel bzw. der Regelung. (Mehr über sich spontan einstellende Sollwerte, wie man sie aus der Natur kennt, in dem Kapitel 5.2e.) Indem ein solcher „Marktpreis“ durch Rückkopplung zustande kommt, kann er durchaus als Nachfragepreis bezeichnet werden. Das wäre eine völlig andere Preisbestimmung als die nach der Menge der geleisteten produktiven Arbeit. In welchem Sinne ist aber dieser Preis gerecht?

Jedem Menschen leuchtet unmittelbar und sofort ein, dass zwei Leistungen, wenn sie gleich sind, auch das gleiche Ergebnis hervorbringen. Diese Schlussfolgerung lässt sich auch umdrehen. Wenn zwei Ergebnisse bzw. Güter gleich sind, ist davon auszugehen, dass jedes die gleiche Menge von „Mühsal und Anstrengung“ benötigt, um sie zu erreichen – also die gleiche Arbeitsmenge. Wenn dann jemand zu hohe Preise verlangt – wozu der rational und moralisch beschränkte Mensch unbewusst oder bewusst ständig neigt -, soll der Käufer diese ablehnen dürfen: Entweder überschätzt der Anbieter seine Leistung, oder er macht etwas falsch und müht sich unnötig ab. Weder das eine noch das andere soll belohnt werden. Das entspricht voll und ganz der Gerechtigkeit bzw. Leistungsgerechtigkeit, die sich durch Nachfrage realisiert, so dass sich die Marktpreise auch als nachfragegerechte Preise bezeichnen lassen. Man kann also sagen, dass Smith der langen Tradition des gerechten Preises (iustum pretium) von Aristoteles über Augustin (354–430) bis hin zu Albertus Magnus (1200–1280) und Thomas von Aquin (1225–1274) folgte, aber zugleich eine völlig neue, originelle konsequentialistische Lösung gefunden hat, die auch mit dem beschränkt rationalen und beschränkt moralischen Menschen funktioniert – zumindest viel besser als alle anderen.

Produktivität  

Die nachfrageseitige, ergebnisbestimmte oder - moraltheoretisch gesagt - die konsequentialistische Preisbildung hat noch eine wichtige Eigenschaft. Wenn jemandem einfällt, wie sich die Arbeitsmenge (embodied labour) in der Produktion einsparen lässt,muss er, solange ihn die Konkurrenz nicht kopieren kann, die Preise nicht senken und kann dadurch einen Extraprofit einstreichen. Dieser ist auch noch gerecht, nämlich als Belohnung für seine Erfindung oder Innovation. Die Konkurrenzwirtschaft ist schließlich historisch betrachtet die erste ökonomische Ordnung, in der es sich lohnt, technisches Wissen zu erfinden und anzuwenden. In der Zeit als Smith lebte, stand das technische Wissen im gesunden Menschenverstand noch überall zur Verfügung, so dass Smith es nicht als entscheidende Ursache der Produktivitätssteigerung betrachtet hat. Die Historiker sind sich einig, dass die Erste industrielle Revolution, die sozusagen „technisches Wissen“ der ganzen vormodernen Epoche benutzte, erst nach Smiths Tod richtig begonnen hat. Es war damals nur das Kapital knapp, in dem sich das technische Wissen durch Arbeitsteilung realisierte, so dass für Smith die Arbeitsteilung wenn nicht die Ursache, so doch zumindest der wichtigste Faktor der Produktivitätssteigerung war. Was man Smith sozusagen verzeihen kann, darf man Marx aber nicht mehr, da er schon die Wichtigkeit des technischen Wissens hätte erkennen müssen – hat er aber nicht. Nicht von ungefähr trägt sein Hauptwerk den Titel Das Kapital, was die kommunistische Wirtschaft in die falsche Richtung lenkte. Ganz anders ist es bei Smith. Auch wenn ihm das technische Wissen nicht wichtig erschienen ist, der von ihm durch die Nachfrage bestimmte Preis war eine geniale Lösung für die Produktivitätssteigerung.

Die Erfahrung mit der gesteuerten Planwirtschaft hat nicht nur gezeigt, dass die Kapitalakkumulation für die Steigerung der Produktivität nicht ausreicht, sondern auch Forderung und Förderung der Ausbildung alleine nicht. Sie produziert Schwätzer ohne Ahnung und ohne Kreativität. So hat Schumpeter sehr richtig festgestellt, dass „es ganz falsch ist … wenn man, wie viele Ökonomen es tun, behauptet, daß die kapitalistische Unternehmung und der technische Fortschritt zwei verschiedene Faktoren … gewesen seien; sie waren ihrem Wesen nach ein und dasselbe, oder, wie wir es auch ausdrücken können, die erste war die treibende Kraft des zweiten.“ (1946: 181).

Privateigentum  

Heben wir es noch einmal ausdrücklich hervor, dass für Smith die produktive Arbeit („Mühsal und Anstrengung“) – neben der Natur – die einzige authentische Quelle war, aus der Güter stammen. Das Kapital ist aus ihnen nur abgeleitet - ist also nicht ein authentischer Produktionsfaktor. Die Arbeit der Berufe wie Lehrer, Beamte, Soldat … und auch Bankiers und Kapitalbesitzer ist für Smith unproduktive Arbeit, die zur Vermehrung des Wohlstandes der Nation nicht beiträgt. Da ist er ganz klar und eindeutig. Das Einkommen aus dem Besitz von Kapital oder Aktien, also Profit, ist ebenfalls kein sozusagen selbständig geschaffenes Einkommen, sondern nur ein Abschlag von dem, was die produktive Arbeit der Beschäftigten in der Produktion leistet. Marx hat dasselbe nur drastischer formuliert, wenn er den Profit als Erpressung und Enteignung der Löhne (des „Mehrwerts“) durch das Kapital schildert und die Expropriation der Expropriateure als gerecht betrachtet. Für Smith war es auch selbstverständlich, dass große Profite und Einkommensunterschiede auch deshalb nicht leistungsgerecht sein können, da sich Menschen voneinander wenig unterscheiden. „Der Unterschied in den Begabungen der einzelnen Menschen ist in Wirklichkeit weit geringer, als uns bewußt ist. Von Natur aus unterscheidet sich ein Philosoph in Begabung und Veranlagung nur halb so viel vom Lastträger wie eine Bulldogge von einem Windhund“ – so Smith wörtlich (Wohlstand: 62). Trotzdem ist Smith nicht gegen das Privateigentum und den leistungsunabhängigen Profit. Auf den ersten Blick scheint das ein Widerspruch zu sein, ist es aber nicht.

Die schonungslose Kritik der Aktiengesellschaften lässt uns genau verstehen, warum Smith das Privateigentum befürwortet, aber nur als Einkommen der individuellen Unternehmer, nicht jedoch in der Form der (privaten) Aktien. Die Aktiengesellschaften können nach Smith nie effizient sein, weil ihre Leitung (Management) auch nur beschränkt rationale und beschränkt moralische Menschen sind, die niemand daran hindern kann, ausschließlich in ihrem eigenen egoistischen Interesse zu handeln. Die Aktienbesitzer, also viele kleine private Eigentümer, sind nach ihm nie imstande das zu verhindern. Außerdem sind die Aktionäre auch keine besseren Menschen und selbst versuchen auch sie nur in eigenem egoistischen Interesse zu handeln, auf Kosten von anderen Aktionären - also des Kapitals der Aktiengesellschaft. Er hat das sehr ausführlich und sehr eindrucksvoll beschrieben, um zu zeigen, dass es keine Möglichkeit gibt,  mit irgendwelchen Maßnahmen die Effizienz der Aktiengesellschaft zu verbessern. In vier Bereichen lässt Smith Aktiengesellschaften aber zu, wo sie durch den Staat (!) streng reglementiert werden müssen. Sonst will er nichts vom Kapital hören, das nicht nur einzelnen oder wenigen gehört. Nur wenn das Privateigentum des Einzelnen groß genug ist, ist er als Besitzer motiviert genug, alles zu unternehmen, es vor den sozusagen perfiden und gierigen Managern zu beschützen. Was tun, wenn auch solche Kapitalbesitzer nicht willig oder fähig sind, das Kapital zu schützen? Die Regel der Konkurrenz selektiert dann Kapitalbesitzer in gute und schlechte - fähige und unfähige. Die Kapitalbesitzer, die ihr Kapital nicht vor dem Management - und vielleicht auch anderen perfiden Beschäftigten - ausreichend schützen, verschwinden aus dem Markt, ihr Kapital bekommen solche, die es besser beschützen – was allen zugutekommt. Moraltheoretisch betrachtet sind die Profite eine gerechte Strafe für unsere menschliche Unvollkommenheit. Anders als bei vormodernen Machteliten, sollten die Kapitalbesitzer als eine neue herrschende Klasse aber nicht bedingungslos erbberechtigt sein, sondern ihre Macht, Status und Privilegien nur solange behalten, wie sie ihre nützliche Aufgabe in der Wirtschaft erfolgreich erfüllen. Auch in der Frage des Privateigentums und der leistungsunabhängigen Profite kommt also klar zum Ausdruck, wie Smith als Wissenschaftler sowohl holistisch oder systemisch als auch konsequentialistisch oder empirisch denkt.

Zins  

Völlig fremd war für Smith auch die Auffassung, der Zins wäre der Preis irgendwelcher Leistung, im Gegenteil. Als Moralphilosoph sah Smith im Zins eine Quelle der Habgier, die er nicht gutheißen konnte. Er erlaubt den leistungsfreien Zins trotzdem, da dieser unter bestimmten Bedingungen für die Gesellschaft nützlich sein kann. Im Sinne der frühmodernen Ethik ging es ihm auch hier um die Nutzbarmachung der sonst schädlichen menschlichen Affekte, und zwar der Habgier. Nach ihm motiviert der Zins zu mehr Sparen, mehr Sparen würde mehr Investitionen bedeuten, die dann die Arbeitsteilung weiter vertiefen würden, wodurch die Produktivität steigen und der allgemeine Wohlstand wachsen würde. Aus regelungstechnischer oder kybernetischer Überlegung lässt sich das so formulieren, dass der Zins ein automatisch gebildetes Stellglied einer (quantitativen) Regelung ist, welche die Investitionsmenge (mit-)bestimmt. Auch bei dieser Regelung kommt klar zum Ausdruck, dass Smith die Wirtschaft als ein holistisches System betrachtet und theoretisch behandelt, in dem die wichtigste Funktion Regeln ausüben.

Ich kann es nicht aus direkter Erfahrung behaupten, aber mein Eindruck ist, dass schon seit einigen Jahrzehnten die Studenten der Ökonomie so etwas über Smith nicht mehr gehört haben. Sie würden es kaum glauben wollen, dass ich jetzt über Smith gesprochen habe - von dem sie nur die „unsichtbare Hand“ kennen und vielleicht noch den Bäcker, der uns das Brot nicht  aus  Wohlwollen für uns, sondern „von seiner Bedachtnahme auf sein eigenes Interesse“ bereitet. Ein solcher „Schrumpf-Smith“ dürfte vor allem in den renommierten privaten Unis - die sich nach den vielen Steuersenkungsorgien inflationartig vermehrt haben - zur Kenntnis angeboten. Richtig einseitig und verzerrt, dem Zwecke nach geistige Söldner des Kapitals zu züchten. Es ist kein Geheimnis, was an den Unis für eine akademische Karriere entscheidend ist. „Auch wenn man den Jungakademikern keine konkreten Anweisungen erteilt, begreifen sie schnell, daß sie nicht für kreatives Denken bezahlt werden. ,Wir sind hier kein Promotionssauschuß, vor dem jeder Doktorand in Ruhe seine Thesen ausbreiten darf‘, gibt Burton Pines, Forschungsdirektor bei der Heritage Foundation, unumwunden zu. ,Unser Auftrag lautet, konservative Politiker mit Argumenten einzudecken‘“ (Zakaria: 222). Warum war es aber in der Zeit von Smith anders?

Die kleinen Kapitalisten hatten damals noch den Adel als größten Gegner - als Klassenfeind. Die neue Klasse musste gut theoretisch aufrüsten, um eigene Interessen moralisch und rational attraktiv, bis utopisch zu rechtfertigen. Aber wie gut Smith die Marktwirtschaft moralisch und logisch argumentativ vertrat, und wie sehr ihn auch die kleinen Kapitalisten verstanden haben - auch wenn er gar nicht sehr nett zu ihnen war -, die Marktwirtschaft hatte auch das nötige praktische Glück um zu siegen. Es gab damals tatsächlich günstige externe Faktoren, die für die Marktwirtschaft sprachen bzw. ihren Sieg ermöglicht haben. Welche könnten das aber gewesen sein? 

Fortsetzung folgt

 
 
 
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